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Eigenständiger Bildungsauftrag von Kindergärten

Der Kindergarten wird in dieser Neuordnung 1970 im Strukturplan des Deutschen Bildungsrats zum Elementarbereich des deutschen Bildungswesens erklärt und mit einem eigenständigen Bildungsauftrag versehen. Unter Bildungsförderung wird zu dieser Zeit vor allem die curricular organisierte und frühe Förderung kognitiver Fähigkeiten verstanden (Zeiher 2001, S. 434). Entsprechend finden sich in den verschiedenen Bundesländern Vorschulmappen, Übungskästen und Lernspiele in den Kitas. Nicht wenige ErzieherInnen (damals noch KindergärtnerInnen genannt) avancierten dabei mit nicht unbescheidenem Stolz quasi zu einer Art Vorschullehrerin, allerdings bei gleichbleibend niedrigem Gehalt.

Gegen diese Art der isolierten Vermittlung von Kenntnissen und Fähigkeiten (auch als so genannter funktionsorientierter Ansatz bekannt geworden) formierte sich jedoch rasch Widerstand. Unter anderem angeregt durch die Fragen und Themen der studentischen, außerparlamentarischen Opposition, kurz der Studentenbewegung, geraten auch die Inhalte der bundesrepublikanischen Bildungseinrichtungen ins Visier. Beachtung finden u.a. die Freudschen (Brocher 1971, S. 22 ff.) Erkenntnisse über die große Bedeutung frühkindlicher Entwicklung für ein gesundes Sexual- und Seelenleben, die Schriften des Reformpädagogen Alexander Neills zur antiautoritären Erziehung genauso wie die Bücher des südamerikanischen Befreiungspädagogen Paulo Freire (1973) oder das Konzept der Selbstaktualisierung des amerikanischen Psychotherapeuten Carl Rogers (Sander 1999, S. 43 ff.).

Sie alle fordern, mehr oder weniger, die Notwendigkeit des wertschätzenden Respekts für die Einzigartigkeit der menschlichen Persönlichkeit und ein behutsames Vorgehen in Erziehungsfragen, um eine gute körperliche, geistige und seelische Entwicklung des Menschen zu ermöglichen. Gefordert wird ein achtungsvoller, einfühlsamer und liebevoller Umgang mit dem Nachwuchs, damit einerseits das nötige Urvertrauen und wachstumsfördernde Beziehungsfähigkeit entwickelt werden können und andererseits die Grundlagen für ein echtes soziales und demokratisches Miteinander in der Gemeinschaft ermöglicht werden: Selbstbewusstsein zu entwickeln, Verantwortung für sich und andere zu übernehmen und sich aktiv und mitgestaltend an der Entwicklung des Gemeinwesens zu beteiligen sind wichtige Zielperspektiven dieser humanistisch geprägten Vordenker. Als hinderlich für die Entwicklung dieser Qualitäten werden z.B. zu frühe Anpassungsleistungen (etwa in der Sauberkeits- und Ordnungserziehung oder übertriebene frühzeitige Leistungsanforderungen) problematisiert sowie ein in den herkömmlichen Institutionen erzeugtes Lernverständnis, das wenig bis gar nicht Rücksicht auf die Bedürfnisse der Lernenden nimmt.

Ein Teil der jungen Generation, die sich solchen und anderen 68er-Reformideen verhaftet fühlt, macht sich daher auf den Weg, durch Gründung eigener Kinderbetreuungseinrichtungen, etwa der Kinderläden oder freien Schulen, andere Inhalte und Formen der Erziehung zu leben. Die Frauen, die jetzt an die Uni drängten, benötigten Betreuungseinrichtungen für ihre Kinder und waren mit den wenigen, überwiegend in konfessioneller Trägerschaft befindlichen nicht zufrieden.

Vor allem das Studium der Geisteswissenschaften erfreut sich in dieser Zeit großer Nachfrage. Hier ist der Ort, wo die Vergangenheit kritisch durchforscht und analysiert wird, hier wird aber auch über Konsequenzen und Perspektiven humaner, zukünftiger Gesellschaftsformen nachgedacht und zum Teil heftigst gestritten. Nicht wenige ergreifen zu dieser Zeit z.B. einen pädagogischen Beruf, um den vom Studentenführer Rudi Dutschke (1998) geforderten "Marsch durch die Institutionen" (S. 334) anzutreten.

Unter anderem vor dem Hintergrund der damals vehement vorgetragenen studentischen Kritik, die sich vor allem auch als eine Anmahnung der Lehren für das Bildungssystem aus den Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus darstellten, und im Auftrag der Bundesregierung entsteht das durch Jürgen Zimmer und andere im Deutschen Jugendinstitut in München entwickelte Curriculum "Soziales Lernen" (DJI Forschungsbericht, Teil 1, 1981, S. 94 ff.) für den Elementarbereich. Es entfaltet eine Fülle von Reformvorschlägen, die im Austausch mit ErzieherInnen vor Ort in den Kindergärten gewonnen wurden (Aktionsforschung!) (DJI Forschungsbericht, Teil 2, 1981, S. 214 ff.).

Ziel ist es, frischen Schwung in die Kindergartenlandschaft zu bringen. So werden z.B. die Einführung von altersgemischten Gruppen angeregt, die Einführung von gezielter Elternarbeit, Projektarbeit und offene Planung, um nur einige Grundsätze zu nennen. Im Zentrum aber all dieser Bemühungen soll die Orientierung am Kind und dessen Bedürfnissen sein. Das heißt, alle pädagogischen Maßnahmen und Aktivitäten haben sich letztlich über die Beantwortung der Frage zu legitimieren, ob sie am Erkenntnis- und Entwicklungsinteresse des Kindes orientiert sind.

Damit ist ein deutlicher Paradigmenwechsel im Nachkriegsdeutschland beziehungsweise im Verständnis zeitgemäßer Frühpädagogik eingeleitet. Das dem Situationsansatz zugrundeliegende Menschenbild setzt auf autonome Subjekte/ Persönlichkeiten, denen die Entwicklungs- und Erziehungsziele Autonomie, Kompetenz und Solidarität zugedacht sind.

Für die Kindergärten entstehen pädagogische Arbeitsmaterialien, die so genannten didaktischen Einheiten, die gemeinsam von Erziehungskräften und Wissenschaftlern in Modellkindergärten entwickelt und erprobt wurden. Den Kindern sollen in lebensnahen, das heißt für sie wichtigen Alltagssituationen Erfahrungen ermöglicht werden, die für den Aufbau von Handlungskompetenzen in zukünftigen Lebenssituationen behilflich sein sollen.

Wie so oft bei Neuerungen, gelingt allerdings die Umsetzung dieser innovativen Ideen in der Praxis nur bedingt. Den Ausbildungsstätten glückt es nur partiell, das neue Denken in praktikable Ausbildungskonzepte umzusetzen. Vielfach hängt die erfolgreiche Umsetzung mit dem Mangel an geeigneten Aus- und Weiterbildungsmöglichkeiten des Lehrpersonals selbst zusammen, scheitert aber auch an der mangelnden Bereitschaft zu zusätzlichem Engagement und Veränderungswillen, da es zum Beispiel keine zusätzlichen Entwicklungsanreize gibt.

Entsprechend rudimentär blieben die Ansätze in der Praxis, obwohl für Außenstehende nach der Lektüre der einschlägigen Fachliteratur der Eindruck entstehen muss, dass in Deutschland flächendeckend nach dem Situationsansatz gearbeitet wird. Dies aber ist ein bedauerlicher Trugschluss bis auf den heutigen Tag.